Aus: Peter Singer: Mein Großvater: Die Tragödie der Juden von Wien. Europa Verlag, Hamburg–Leipzig–Wien

Dezember 1998
Nach meiner Begegnung mit Eva [Berger] besuchte ich Albert Massiczek. Ein bemerkenswert lebhafter und wacher Herr von 82 Jahren kommt an die Tür, ergreift meine Hand fest und hält sie lange, ein herzliches Lächeln im Gesicht und ein einziges Auge, das mich anstrahlt. Die schwarze Klappe trägt er nicht mehr, und die eingefallene Stelle, wo sein rechtes Auge war, gibt seinem Gesicht ein auffallend asymmetrisches, aber nicht unangenehmes Aussehen. Er freut sich sichtlich, mich zu sehen und führt mich in die Küche, wo er ein leichtes vegetarisches Essen zubereitet hat. Wie sprechen von meinen Großeltern und ihrem Einfluß auf sein Leben. Er zeigt mir einen Brief, den David ihm im Januar 1942 schrieb, um ihm zur Geburt seines ersten Kindes zu gratulieren.
[…]
Unser Gespräch berührt mehrere Themen, auch solche, die Massiczek mit meinem Großvater diskutierte. Bevor wir uns verabschieden, nimmt er aus seinen Bücherregalen einen Band mit den Schriften der griechischen Philosophen, der sogenannten „Vorsokratiker“, weil sie vor Sokrates wirkten. Es ist eine zweisprachige Ausgabe mit dem griechischen Text auf der einen Seite und der deutschen Übersetzung auf der anderen. Mein Großvater gab sie ihm nicht als Teil seiner Bibliothek, die er für bessere Zeiten hüten sollte, sondern als Geschenk. Jetzt schenkte er sie mir, so daß das Buch, das einmal zur Bibliothek meines Großvaters gehörte, nun Teil meiner eigenen sein wird.