Ein Leben wider das Vergessen
Albert Massiczek wurde am 15. April 1916 als drittes von fünf Kindern in Bozen geboren. Die ursprünglich in Triest ansässige Familie war – aus Angst vor politischen Veränderungen durch den ersten Weltkrieg – im Begriff, nach Wien zu übersiedeln.
Mein Vater wuchs in einem streng katholischen, monarchistisch-deutschnationalen Milieu auf. Sein Vater war Offizier der Gendarmerie, seine Mutter ausgebildete Sängerin und Klavierlehrerin. Die Familie lebte in bescheidensten Verhältnissen in der Leopoldstadt, dem traditionell von jüdischen Bürgern bewohnten Bezirk Wiens.
Der Elfjährige wurde von einer dem „Wandervogel“ ähnlichen Gruppe der Jugendbewegung mit Namen „Gefolgschaft deutscher und österreichischer Jungen“ angeworben. Diese Gruppe war zu Anfang völlig unpolitisch, bildete jedoch im Laufe der Zeit eine rassistische Komponente aus. 1936 war mein Vater nach dem Beitritt zum „Hitlerjugendstamm Donaustadt“ formell illegaler „Fähnleinführer“ des „Deutschen Jungvolks“, was die Zugehörigkeit zur HJ und später zur NSDAP nach sich zog. Mit 21 Jahren trat er der SS bei. Als ihr Mitglied erlebte er die Besetzung Österreichs durch die deutsche Wehrmacht.
Schon die ersten Tage des ursprünglich herbeigesehnten „Anschlusses“ stellten sich als so grauenvoll für ihn dar, dass mein Vater über das neue Regime ernsthaft nachzudenken begann. Sein Studium der Geschichte am „Institut für Geschichtsforschung“ (IÖG), dessen Mitglied er bis zu seinem Tod war, führte ihn nicht nur mit Friedrich Heer zusammen, einem überzeugten Anti-Nazi, der sein Freund und 1944 mein Taufpate wurde, sondern auch mit Hildburg (Burgi) Berger, seiner späteren Ehefrau. Durch deren Schilderungen der bereits begangenen Gräueltaten der Nazis hatte er die Kraft, sich von diesen zu distanzieren.
Durch meine Mutter lernte Albert die zahlreichen jüdischen Freunde ihrer Familie kennen, durch Fritz Heer das Ehepaar Oppenheim. Die Erfahrung der „Reichskristallnacht“ hatte ihn zutiefst erschüttert. So tat er alles in seiner Macht Stehende, um, zusammen mit seinen Freunden, den bedrohten Menschen zu helfen. Er wandte sich erneut dem Christentum zu und schloss sich auf Einladung des Publizisten Viktor Reimann der „Österreichischen Freiheitsbewegung“ um den Augustiner-Chorherrn Roman Karl Scholz an. Durch den Verrat eines Mitglieds kamen die meisten anderen Mitglieder um.
Nach der Einberufung Heers zur Wehrmacht am 1. 1. 1940 übernahmen Albert und Burgi die Betreuung der Oppenheims, nach Alberts Einberufung, die zwei Tage nach der abgelegten Staatsprüfung im März 1940 erfolgte, kümmerte sich Burgi allein um das Ehepaar. Oppenheims wurden 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo Ernst David Oppenheim seinem Diabetes erlag.
Noch während der militärischen Ausbildung in Retz im Sommer 1940 heirateten Albert und Burgi kirchlich, entgegen den Direktiven der SS, der er formal noch angehörte. Dieser Ehe entstammen vier Kinder.
Seinen Kriegsdienst leistete mein Vater erst in Rumänien, später ging es, über Polen, direkt an die russische Front. Schwer verwundet kehrte er Ende 1941 nach Wien zurück. Als Einäugiger sollte er nach seiner Genesung den Insassen eines Blindenlazaretts „politischen Unterricht” erteilen, was er zu vermeiden trachtete. Nebenbei fand er Arbeit an der Österreichischen Nationalbibliothek.
Nach Ende des Krieges kam Albert Massiczek der Registrierungspflicht für ehemalige Nationalsozialisten nach. So verlor er seinen Posten an der Nationalbibliothek, in die er erst nach der Amnestie 1948 zurückkehren konnte.
Christian Broda, den mein Vater durch Fritz Heer im Jahr 1939 kennengelernt hatte und mit dem er in regem Kontakt stand, warb ihn 1949 für den Bund sozialistischer Akademiker (BSA). Bald wurde er auch SPÖ-Mitglied. In den 50er Jahren gehörte Albert zu den Gründungsmitgliedern der „Arbeitsgemeinschaft für Kirche und Sozialismus“ (heute: „acus“). Doch enttäuscht verliess er später die Kirche und in fortgeschrittenem Alter auch die Sozialdemokratische Partei.
Nach einer lebensbedrohlichen Krankheit nützte mein Vater die Genesungszeit, um sich eingehend mit dem Judentum zu befassen, was zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit führte. Daraus entstanden mehrere wissenschaftliche Arbeiten und Vorträge zum Thema. 1968 erschien sein Hauptwerk: „Der menschliche Mensch – Karl Marx’ jüdischer Humanismus“
1971 wurde Albert Massiczek zum Direktor der Bibliothek der Akademie der Bildenden Künste ernannt, zudem übernahm er einen Lehrauftrag für Bildnerische Erziehung. Im Präsidium der „Österreichischen Widerstandsbewegung“ war er zusammen mit Ella Lingens und Simon Wiesenthal tätig.
Albert Massiczek gehört zu den wenigen Menschen, die ihre Mitschuld am „Dritten Reich“ und den damals begangenen Gräueltaten eingestanden. Er hat sich Zeit seines Lebens dieser Mitschuld geschämt und sich darum bemüht, das Geschehene allen Menschen bewusst zu machen. Nur so, meinte er, könne man eine Wiederholung dieses Grauens verhindern. Also veröffentlichte er im Jahr 1988 den ersten Teil seiner Autobiographie: „Ich war Nazi. Faszination – Ernüchterung – Bruch.“ (Junius Verlag, Wien, ISBN 3-900370-89-3). 1989 folgte der zweite Teil: „Ich habe nur meine Pflicht erfüllt“ (Junius Verlag, Wien, ISBN 3-900370-87-7).
Albert Massiczek ging am 21. Mai 2001 nach einem Unfall völlig unerwartet aus dem Leben.
Zürich, im April 2008,
Constantia Spühler