Brief von Prof. Dr. Ernst David Oppenheim vom 11. 1. 1942 anlässlich der Geburt der Tochter Anna am 4. Jänner

© Hildburg Massiczek
Wien, 11. I. 1942.
Lieber Freund!
Mit hoher Freude begrüßen wir das Kind, das Euerm Ehebund entsprossen ist. Ihr nennt es Anna, vielleicht ohne zu wissen, daß dieser Name in seiner Ursprache, im Hebräischen, schlechthin Gnade bedeutet. Aber wie Ihr gesinnt seid, werdet Ihr auf jeden Fall der Weisung, die in dem Namen liegt, getreulich folgen. Weit entfernt, Eure Anna selbstgefällig als Euer Geschöpf zu vergöttern, werdet Ihr sie mit gläubigem Aufblick als Gnadengabe des Himmels empfangen und so hingebend betreuen, daß Ihr und sie des göttlichen Gebers immer würdiger werdet. Bedeutsam scheint es aber auch, daß diese Anna ein Kriegskind ist. Denn schlummern ihm auch im Zeitenschoße die dunkeln und die heitern Lose, eines ist doch völlig gewiß, an einem Krieg tätig Teil zu nehmen, ist ihm durch sein Geschlecht verboten. Und so könnt Ihr in der Geburt dieses Kindes ein tröstliches Sinnbild sehen, daß diesem höllischen Krieg doch ein Friede entspringen wird, der eine Gnade des Himmels ist, weil er nicht durch die Gewalt der Waffen erzwungen, sondern aus gutem Willen geschaffen ist, jener Friede, von dem der kaum verklungene Weihnachtsgruß sagt: „Gloria in excelsis deo et in terris pax hominibus bonae voluntatis.“
So viel Grund gibt uns Euer Kind, Euch zu seiner Geburt ganz besonders zu beglückwünschen, den stärksten aber bietet Ihr selbst, denn was Ihr uns getan habt und tut, uns, die wir jetzt kaum der Geringsten einer sind, können wir Euch gar nicht entsprechend vergelten, es wäre denn durch innigste Anteilnahme an Eurem Leben.
Demgemäß wünschen wir noch der lieben Frau Burgl ein gutes Wochenbett und der kleinen Anna ein fröhliches Gedeihen an der Mutterbrust. Dir aber, l. Albert, will ich unbeschadet der gebotenen Demut, doch auch ein wenig Vaterstolz vergönnen.
Deinem Besuch sehe ich mit einer Ungeduld entgegen, die ich freudig nennen könnte, gäbe es in meinem persönlichen Leben noch echte Freude.
Mit besten Wünschen und innigen Grüßen von Haus zu Haus
Dein treuer Ernst [Oppenheim]