Artikel in „Das jüdische Echo“, 1 Vol xxxv, Oktober 1986
Gefühle oder Die Impotenz, mit sich selber umzugehen
Von Albert Massiczek
Vor zwanzig Jahren hatte mich „Das jüdische Echo“ eingeladen, zum Fall Borodajkewycz Stellung zu nehmen. Ich tat dies unter dem Titel „Der Antisemitismus blockiert Österreichs Zukunft“. Die vorliegenden Zeilen sind nicht als Wiederholung gedacht, doch hole ich einiges, das ich damals geschrieben habe, bewußt aus der Vergangenheit herauf. Es läßt sich dann feststellen: Was hat sich seither geändert?
Der Fall B. dürfte der jungen Generation kaum dem Namen nach bekannt sein; wer in mittleren Jahren ist, wird sich erinnern, was er aus der Nähe erlebt hat: Taras Borodajkewycz war Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel (heute Wirtschaftsuniversität Wien). Seine akademische Lehrtätigkeit hatte eine deutlich antisemitische Schlagseite. Zwei sozialistische Studenten, die heutigen Minister Lacina und Schmidt, brachten die Sache an die Öffentlichkeit. Es kam zu Demonstrationen rechtsradikaler Studenten (manche davon haben es ebenfalls zu hochrangigen Politikern gebracht). Unter anderem ertönte der Ruf „Hoch Auschwitz!“ Der dagegen demonstrierende Demokrat Kirchweger wurde von einem Nazistudenten attackiert und starb an den Folgen. Dem Begräbnis gaben 25.000 Österreicher, darunter Mitglieder der Bundesregierung, das Geleit. Anschließend beschäftigte der Fall B. die Gerichte.
Um das Jahr 1938 war ich Student, B. schon Hochschullehrer.
Wohl 1940 dürfte er über gemeinsame Bekannte erfahren haben, daß ich mich 1938/39 bewußt der katholischen Kirche zugewandt hatte. Daß ich seine politische Einstellung längst nicht mehr teilte – ich hatte mich 1938 vom Anhänger des Naziregimes zu dessen Gegner entwickelt –, war ihm verborgen geblieben. Der ebenso engagierte Nazi wie engagierte Katholik hielt mich für seinesgleichen.
Ein einziges Mal, wohl Mitte 1941, kam es zum Ansatz eines Gesprächs. Ich erinnere mich daran sehr deutlich. Ich wartete damals im Haus-, Hof und Staatsarchiv am Minoritenplatz darauf, zu dessen Leiter, meinem ehemaligen Universitätslehrer Lothar Groß, vorgelassen zu werden, um mich als Absolvent des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung um eine Stelle im Archivdienst zu bewerben. Als ich im Vorraum der Direktion saß, nicht absichtslos in Zivil und ohne Abzeichen, aber infolge einer Kriegsverletzung um ein Auge ärmer als ein Jahr zuvor, betrat der von uns jungen Institutsmitgliedern scherzhaft als Taras Bulba bezeichnete Dozent B. den Raum und begrüßte mich auffallend herzlich. Als Zivilist fühlte ich mich im Reich der Uniformierten zu keinerlei Zackigkeit verpflichtet. Höfliche Verbeugung und Händedruck erschienen mir als angemessen.
B. war in der Uniform eines Politischen Leiters der NSDAP, im Volksmund der Farbe wegen Goldfasan genannt. Ein kleiner, spindeldürrer Mann mit blondem Hitlerschnurrbart und martialischem Auftreten. Er kam sofort auf das für ihn Wesentliche: daß es unerhört sei, wie man „uns Katholiken“ jetzt zusetze, nachdem wir in der Schuschniggzeit unseren Kopf hingehalten hätten. „Wir“ seien doch eigentlich die verläßlichsten und infolge unseres katholischen Glaubens die ehrlichsten und überzeugtesten Deutschen und Nationalsozialisten.
Es ist heute unerheblich, in welcher Form ich damals auswich. Jedenfalls gab es keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit und subjektiven Überzeugung der B.’schen Aussage. B. zeigte sich ebenso zornig wie gekränkt, ebenso offensiv wie zur – begrenzten – Opposition entschlossen.
Begrenzte Weltsicht
Ich erwähne mit Bedacht B.’s gute Eigenschaften: B. war ehrlich, freundlich, für Studenten stets zugänglich, fleißig, fachlich sehr gebildet. Was hatte ihn zum Nazi gemacht? Was ließ ihn, den christlich gläubigen Menschen, trotz aller öffentlich verübten Greuel – 30. Juni 1934, Nürnberger Gesetze, „Anschluß-Torturen, Sturm auf das Wiener Erzbischöfliche Palais, Kristallnacht, ständiger Abtransport von Juden – bei seiner politischen Linie bleiben? Obwohl Zeitzeuge, wußte er damals über die nazistischen Untaten natürlich viel weniger als wir heute, abgesehen davon, daß die innere Dynamik der NS-Kriminalität noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte und eine ziemlich perfekte Geheimhaltung plus geflissentlicher Flüsterpropaganda dafür sorgte, eine „Ansiedlung der Juden im Osten“ als immerhin möglich erscheinen zu lassen. Als intelligenter Zeitgenosse mit Augen im Kopf und den besten Beziehungen zu informierteren Kreisen wußte er damals aber zumindest soviel wie ich. Seine Empörung galt jedoch nicht der offen zutageliegenden Unmenschlichkeit gegenüber den Juden, gleichgültig ob sie von Abtransport, Arisierung, Berufsverbot, Wohnungsraub usw. gekennzeichnet war, sondern der fehlenden Würdigung katholischer Verdienste für die deutsche Besetzung Österreichs und das, was sich um sie herum Politik nannte.
Seit damals ist B. für mich der Prototyp einer vor, während und nach der Nazizeit in Österreich in einer bestimmten Schicht vorherrschenden Mentalität. Ihr auffälligstes Merkmal ist der entweder offene oder latente, zugegebene oder verleugnete, im Bundespräsidentenwahlkampf 1986 bewußt als politisches Mittel eingesetzte Antisemitismus.
Als Mitglied des Programmausschusses des „Allgemeinen Deutschen Katholikentages 1933“ in Wien gehörte B. zu den Prominenten des heimischen Katholizismus. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Verflechtung nicht weniger Angehöriger dieser Prominenz (auch der heutigen noch) mit dem Nazismus vor dessen Machtergreifung näher zu befassen. In der Mitte des Interesses steht die Frage nach einer „Weltanschauung“, für die die Diskriminierung „des Juden“ ein zentrales Element sein kann.
Diese Weltanschauung war nicht erst mit B. auf die Welt gekommen. Sie hatte zumindest ein europäisches Jahrtausend beherrscht und stand zu päpstlichen und bischöflichen Enunziationen nicht sehr häufig im Gegensatz. Die deutsche Volksausgabe wurde in wünschenswerter Deutlichkeit von einem Professor Riemann 1817 (bei der Eröffnung des Wartburgfestes“) auf den Begriff gebracht: „Alles wahrhaft Christliche ist auch deutsch, alles echt Deutsche ist in Wahrheit christlich.“ B.’s österreichischer Katholizismus hatte an solch deutsch-protestantischer Aussage bezeichnenderweise nichts auszusetzen.
Arcanum Austriacum
Als die Kaiserkrone Karls des Großen „auf die Stirne des deutschen Königs“ (Otto des Großen) kam, „trat Deutschland an die Spitze der Christenheit“, schrieb B. 1936, und im 6. Jahrhundert habe – mit B. – ein immenses Unglück gedroht, nämlich „dem Herzstück Mitteleuropas“. Alles hätte damals den Anschein gehabt, als ob unsere Landstriche „dauerndes Besitztum der Slawen würden: Unkultur und Heidentum wären dann wohl auf längere Zeit ihr Los gewesen …“ Hier trat nur B.’s Einschätzung der slawischen Ahnen zutage. Was er über „den Juden“ fühlte und dachte, kam damals und später nur mündlich heraus. B. wich, wie die meisten seiner Gesinnungsgenossen in der Zeit vor Hitler, der offenen Erörterung dieses Themas und der schriftlichen Festlegung aus. Es wäre falsch, dieses Schweigen als Zeichen der Schwäche zu deuten. Man darf darin getrost die schützende Hülle um das „Arcanum“ sehen. (Dieses lateinische Wort bedeutet: das Geheime. Es meint im innerkatholischen Sprachgebrauch das zentrale Kultgeheimnis, stand aber früher allgemein im Gebrauch für medizinische Wundermittel.) Es handelt sich um das Nichtreden über jenes tiefste Wissen, das Eingeweihten selbstverständlich ist und dem Fremden nicht mitgeteilt wird. „Arcanum“ ist das nur einer engen Öffentlichkeit eigene Geheimnis. In ihm ist man sich über alle Differenzen hinweg einig. Diese Differenzen sind ein Nichts, gemessen an jener absoluten Distanz zu …? Natürlich den Juden. So komisch das anmuten mag: Die heile Welt der Bodenständigkeit hat sich im Kontrastmittel „Jude“ eine ihrem Vorstellungsinventar entsprechende Symbolgestalt alles Fremden, Beweglichen, Unverstandenen geschaffen und damit den klebrigsten Kitt ihres Zusammenhalts produziert. Um sich des Vorhandenseins dieses Bindemittels auch im Tischnachbarn zu vergewissern, genügt ein Schibboleth, ein bestimmtes Reizwort, eine hochgezogene Braue, das spöttische Heben eines Mundwinkels. Sapienti sat – dem „Wissenden“ genügt es. Was man für jüdisch hält, spiegelt das verständnisinnige „arische“ Mienenspiel.
B. war Sender und Empfänger jener ehrenwerten österreichischen Gesellschaftlichkeit, in der man alles Jüdische traditionell als fremd empfindet, wie noch vor einem halben Jahrhundert die Zigeuner – nur daß man die Zigeuner, anders als die Juden, in Städten wie Wien kaum zu Gesicht bekam. B.’s ererbte und vererbte „Selbstverständlichkeit“ den Juden gegenüber ist konstituierendes Element unserer Bodenständigkeit. Hier hat alles Fremde fremd zu bleiben. Weil es unverstanden ist und bleibt, wird es in durchaus mittelalterlicher Weise jenseits der altvertrauten Stände und Umstände angesiedelt. Nur wer hier seit jeher Stand hat, hat auch Anstand und Ehre und weiß, was anständig ist. Solch Selbstverständnis muß sich treu bleiben, will es nicht einen Riß zur Weltoffenheit bekommen. Wo kämen wir hin, würde das Ausland uns vorschreiben, welche Politik in unserem Land zu machen ist!
Um 1960 hatte der akademische Lehrer B. in Vorlesungen Rosa Luxemburg „jüdische Massenaufpeitscherin“ genannt; jüdisch war für ihn die SPD, und „der Jude Austerlitz … hatte zu Bürgerkrieg und Putsch aufgefordert“. Ein jungakademisches Publikum, sorgfältig von österreichischen Lehrern in die Zeitgeschichte eingeführt, hatte seines Professors Kunstpausen nach Wendungen wie „der Jude Kelsen“ oder „der Jude Hugo Preuß“ mit Zustimmung und Gelächter gefüllt.
Immerhin urteilte ein österreichischer Richter, der Hauptakzent sei bei B. auf dessen „tiefeingewurzelten Antisemitismus zu legen“. Was die Person B. angeht, wäre dem nichts hinzuzufügen. Aber der Herr Professor war ja, über das Private hinausreichend, ein gesellschaftliches Phänomen. Er öffnete sein Herz, wo er der Zustimmung sicher sein konnte. Und darin ist er, samt Publikum, auch repräsentativ für die österreichische Gegenwart.
„Gefühle, die wir alle nicht wollen“
Im Präsidentschaftswahlkampf 1986 wurden für Prototyp B. reichlich Belege geliefert. „Infame Niedertracht“, „ehrlose Gesellen“, Pressemacht „Weltjudentum“ – wie im „Völkischen Beobachter“. Auch brave, anständige, auch akademisch Gebildete, ja sogar sozialistische Damen und Herren waren empört, ganz im Sinne des längst verstorbenen Professors B. Wer nicht in der Gnade steht, unserem Juste Milieu anzugehören, empfand anders. Jene jüdische Dame zum Beispiel, die autofahrend das Mittagsjournal anhörte, wo gerade B-konforme Scharfsinnigkeiten Prominenter geboten wurden. Sie mußte anhalten, weil sie so sehr von der Angst angefallen wurde. Sie traute sich plötzlich nicht mehr zu, den Wagen sicher zu lenken. Wer unter seinen Verwandten tote „Helden“ hat, die ein „bodenständiges“ Regime gegen „eine Welt von Feinden“ verteidigten, ermißt auch mit größter Mühe nicht, was seine Worte bei jenen anrichten, die „trotzdem“ übriggeblieben sind …
Kein Zweifel, die Weltlage hat sich geändert. Die Antisemiten dürfen nicht mehr Befehle zur Betätigung bestimmter Hebel in eingezäunten Verbrauchszentren deutscher Chemiekonzerne erteilen. Es hat sich aufgehört, im Radio zu proklamieren, die Juden seien an allem schuld. Wer an Gallensteinen oder Eifersucht leidet, darf nicht mehr dem Nächstbesten eine herunterhauen, wenn er ihn für einen Juden hält. Auch hat das deutsche Wesen an Attraktivität eingebüßt. Slawischnamige Österreicher fühlen sich daher nicht mehr getrieben, den Makel ihrer Gastarbeiterherkunft mit Herumtrampeln auf noch „Fremderen“ und demonstrativem Eintreten für die edle Ortsansässigkeit zu kompensieren, wie die Herren Globocnik, Jury, Reschny, Skorzney und – Taras von Borodajkewycz. Es ist sogar zu einer gewissen Modernität gelangt, sich als Österreicher zu fühlen und die immerwährende Neutralität zu schätzen. Aber das Schwerstwiegende ist geblieben. Seine Zeichen: emotionenweckende Reizworte, verständnisinnige Blicke, Antisemitismus als Mittel der Politik. Das Arcanum ist noch nicht gelüftet, Türen und Fenster fest verschlossen. Vernunft und Moral sind innerhalb der Provinz verblieben.
Was birgt das heilige Geheimnis?
Ich nehme das Sakrileg auf mich, das B.’sche Arcanum wie einen alten Hut hochzuheben und aufzuzählen, was darunter sichtbar wird:
- die Unfähigkeit, sich mit einer der ältesten Kulturen ernstlich zu befassen;
- die Angst, jenes eng- und altvertraute Inventar hinter sich zu lassen, das seit den Kirchenvätern den Juden im christlichen Abendland die Vogelfreiheit verordnete;
- eine in vielen Generationen ziselierte Minimalphantasie, die nur das Aufnehmen und Weitergeben von Stereotypen („Selbstverständlichkeiten“) gestattet;
- das Gefühl der Verpflichtung, jene als Nestbeschmutzer zu denunzieren, die das Brett vor dem Kopf durchstoßen haben;
- das Kleben an Autoritäten, die an längst dahingegangenen Autoritäten kleben;
- die Furcht, mit welterfahreneren, wendigeren, beweglicheren, tüchtigen, phantasiereichen, empfindlicheren (also sensibleren), verfolgungsgewohnten, darum todesnäheren Anderen täglich praktizierte Gemeinsamkeit zu wagen;
- die Abneigung, das Gleichgewicht trivialen Existierens in die zentrale Dimension elementar-menschlichen Sichweiterentwickeins zu verwandeln.
Die Weltlage hat sich radikal gewandelt. Es wäre Zeit, dem zu entsprechen. Das Schicksal unserer kleinen Welt, in der angeblich die große ihre Probe hält, ist vor aller Augen, die sehen können, kein anderes als das Schicksal der ganzen Menschheit. Die Forderung der Stunde an jeden einzelnen kann nur sein, endlich die todernste radikale Entscheidung zu treffen. Wer in seinem Arcanum kleben bleibt, fällt der tödlich bedrohten Menschheit zur Last.