Aus dem Manuskript zu „Tod, Angst, Geld, Kind, Kosmos“:
Widerstand heute!
Ein Schlußwort
„Wäre nicht ich für mich, wer sollte sonst für mich sein? Und wenn nicht jetzt, wann sonst?“ Eine alte jüdische Spruchweisheit. Sie wurde mir während des Sinnens nach einem Schlußwort zitiert. Aus ihr folgt: Je mehr ich für mich als Ganzes im Jetzt bin, desto mehr kann ich auch für andere sein. Und wie könnte ich „mehr“ für mich werden? Indem ich mich von dem trenne, was mich schwächt.
Mich haben mein Leben lang meine Ängste geschwächt. Nicht so sehr Ängste vor Feinden. Ich habe kaum Feinde, aber viele Freunde. Stand ich doch einmal einem Feind gegenüber, er war meistens Vorgesetzter oder sonstiger Machthaber, so schwächte mich in erster Linie nicht dieser, sondern meine eigenen uralten Ängste. Sie waren es, die sogar ein Nichts zu unbesiegbar scheinender Monstrosität aufpumpten. Woher diese Ängste?
Die Bibel fordert auf, sogar die Feinde zu lieben. Wer waren die Feinde, die uns im ganz frühen Leben ängstigten? Für mich weiß ich jetzt, daß es meine elterliche Familie war. In den am weitesten zurückreichenden Erinnerungen ist es vor allem der etwas ältere Bruder. Noch in den mittleren Lebensjahrzehnten war ich versucht, jenen Typen auszuweichen, die an ihn, den mir körperlich Überlegenen erinnerten. Sollte ich diesen Bruder noch heute als Feind betrachten? Nein. Ich habe ihn nur als Kleinkind als solchen empfunden. Dies hat sich mit den Jahren verloren. Aber die kindliche Furcht ist geblieben. Sie habe ich in mir unwissentlich als eine von mir selbst ausgehende, mit eigenen Kräften gespeiste Feindlichkeit gespeichert. Sie war es, die im späteren Leben die akut von außen verursachten Ängste gewaltig verstärkt hat. Eine wahrscheinlich noch größere, aber doch etwas mehr warnende als drohende Rolle spielte bis gegen Ende des sechsten Lebensjahrzehnts die Mutter. Ebenfalls nicht zu übersehende Komponenten meines Angstpakets kamen vom Vater und den übrigen Geschwistern.
Traumata aus der Kindheit schleppt wohl jede(r) mit sich herum. Der verbreitetste Weg, sie zu verdrängen, sind Eheschließung oder Lebenspartnerschaft. Der Entschluß zu Beziehungen „bis daß der Tod uns scheidet“ wird gewöhnlich als happy end angesehen. Aber das kann er nicht sein, solang nicht die Versöhnung mit den ersten „Feinden“ stattgefunden hat. Sonst tritt die neue Verbindung unvermeidlich in die frühkindlichen Schatten. Ganz altes „Feindliches“ wird in seiner Elementarität auf Partner oder Partnerin übertragen und kann sich schon beim Streit um Lappalien zerstörerisch auswirken. Mit der einen Person, der man sich verschrieben hat, läßt sich Weltidentität, will heißen: mit Menschheit, Tieren, Pflanzen, Steinen, Luft, Wasser etc., auch beim besten Willen nicht bewerkstelligen, solang nicht jeder für sich die innere Abspaltung des Angstteils der Persönlichkeit überwunden hat.
Kinder werden nicht da und dort geschädigt, sondern massenhaft und voneinander isoliert. So ergaben und ergeben sich jene „normalen“ Verhaltensweisen, die auch heute unseren Umgang miteinander prägen. Vor allem in den Familien, aber auch in Parteien, Nationen, Religionen und allen sonstigen Institutionen; und kreuz und quer auch zwischen all diesen sozialen Gebilden. Das letzte Glied solcher Verhaltensmisere kann nur unser aller Untergang sein. Denn unser Potential, aus Angst individuell und kollektiv Präventivschläge auszuteilen, hat sich in der Moderne durch den technologischen Fortschritt vermillionenfacht. Auf Knopfdruck ließe sich alles Leben vernichten. Sogar mindestens fünfzehnmal. (Welch Gipfel unserer aufgeklärten Vernunft!)
Immer klarer zeigte sich mir ein ungeheuerlicher Zusammenhang: Frühkindliche Ängste und Unterdrückung der eigenen Sensibilität – Trend zur allgemeinen Gefühllosigkeit – Seelenverkürzung als Schulziel – Primat des Vernunft- und Wissenschaftsglaubens – Verdrängung von Geburtsumständen und Mutterschoß – Machismus, Sexismus, Patriarchat – Verdrängung und Inferiorisierung der Frau und alles Weiblichen – Verdrängung des Sterbenmüssens, des Todes und der Toten – Massenmord als gesellschaftliche Flurbereinigung statt Reifen zu individueller „Feind“- und Todakzeptanz – „Der Jude“: Salz der Erde, darum Sündenbock – Holocaust: Ouvertüre zum Weltuntergang.
Läßt sich solch ein Ring des Verderbens durchbrechen?
Es gilt, die Sache an der Wurzel zu fassen. Jeder Erwachsene wäre grundsätzlich imstande, sein eigenes Angstpaket aus der Kindheit aufzuschnüren und sich zu befreien.
Schon von wenigen ausgeführt, wäre das die Neukodierung für die Zukunft alles [sic] Lebens. Die in den Kinderängsten gebundenen Energien würden, einmal befreit, zur Heilkraft für alle.
Als Kinder haben wir uns aus Angst gegen die innerfamiliären Feinde abgeschirmt und eingemauert. Es war das Werk des Instinkts und der kindlichen Vernunft in der Abwehr erwachsener und institutionalisierter Gefühllosigkeit und Unvernunft. Als Erwachsene sind wir imstande, dieses Geschehen zu durchschauen, die Kinderangst auf ihre Ursachen zu untersuchen und die „Feinde“ von damals als das zu erkennen und zu lieben, was sie selbst waren: ebenfalls angstgepeinigte, voneinander isolierte Menschenkinder aller Altersstufen. Versöhnung, Friede, Verzeihung können die bestimmenden Kräfte des Umgangs mit diesen Feinden werden, seien sie schon tot oder noch lebend.
Stephanie Merritt verdanke ich den Impuls, die voranstehenden Kapitel [des Buches „Tod, Angst, Geld, Kind, Kosmos – Merkzeichen einer Selbstgeburt“; siehe unter Publikationen] niederzuschreiben und zur am meisten sinnstiftenden Arbeit meiner letztvergangenen drei Lebensjahre zu machen.
Vergangene Jahrhunderte haben die als solche unerkannten Kindheitsängste Sündenböcken aufgeladen, in der westlichen Welt meistens den Juden. Nach dem Ende des Holocaust lag es nahe, sie den Deutschen allein aufzubürden. Wie alle Kollektivverurteilungen ist auch diese falsch. Vor allem aber lenkt sie ab von der wahren Aufgabe: die Welt zu retten.
Die Techno-Zivilisation der Moderne ist gespeist vom Angststau voneinander isolierter Individuen. Die Gier nach mehr eigener Lebenssicherheit treibt die Vereinsamten zum panischen Niedertrampeln der anderen und der Welt. Auf diese Weise wird nicht das angestrebte Paradies auf Erden erreicht, sondern im Wege der Todverdrängung Tod provoziert und produziert.
Alice Miller hat in einer Therapie erlernt, sich „systematisch Schritt für Schritt ihrer Kindheit zu nähern“. Es gelang ihr, aus dem Bewußtsein verbanntes Wissen über ihre frühen Jahre wachzurufen. Meine Erfahrungen mit mir selbst entsprechen den ihren. Auch mein Leben nach der Kindheit offenbarte sich als „die ‚Isolierhaft des wahren Selbst‘ im Gefängnis des falschen“.1) Auch ich verstehe die Traumata meiner Kindheit als ebenso tragisch wie fruchtbar. Ich erlernte, Fehlverhalten meiner Eltern und Geschwister einfühlsam, damit verzeihend zu verstehen, Im Gleichklang erneuerte und vertiefte sich die Beziehung zu ihnen. Ohne daß der Tod seinen Stachel gänzlich verloren hätte, entdeckte ich im Dasein den Kontinent der Toten. Er ist von der modernen Techno-Zivilisation zum Nichts gemacht worden. Mit ihm aber gerade jene Personen, die wir benötigen, um unsere Kindheitsängste aufzuarbeiten.
Im Umgang mit den längst verstorbenen Eltern und Ahnen lernte ich Liebe üben und neu verstehen. Nicht nur Liebe zu den Toten. Thornton Wilder kam in „The Bridge of San Luis Rey“ (1927) zum Schluß, daß die einzige Brücke zu den Toten die Liebe sei. Mir wurde bewußt, daß das beharrliche Erbauen der Brücke zu ihnen die einzige Methode ist, uns selbst und die noch Lebenden lieben zu lernen.
1) Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. (Frankfurt/M. 1983) S. 11