Statement Dr. Kurt Lingens vom 13. 3. 1947
DR. MED. KURT LINGENS
Wien I., Doblhoffgasse 5/I.
Betrifft: Dr. Albert Massiczek, Wien 13, Adolfstorg. 21.
Der Unterzeichnete gibt zu seiner Person folgendes an:
Ich war bis zum Jahre 1933 Leiter einer sozialistischen Studentengruppe und wurde deswegen vom weiteren Besuch der deutschen Hochschulen ausgeschlossen. Daher emigrierte ich nach Österreich. Hier wurde ich im Jahre 1942 als Unterarzt der Wehrmacht wegen Juden- und Feindbegünstigung verhaftet. Nach meiner Degradierung wurde ich strafweise an die Front abgestellt, trotz körperlicher Untauglichkeit. Seit Herbst 1944 war ich in der Widerstandsgruppe meiner damaligen Einheit tätig, dies in Verbindung mit der zivilen Widerstandsgruppe Peters. Seit Herbst 1946 bin ich österreichischer Staatsbürger.
Dr. Albert Massiczek ist mir seit vielen Jahren wohlbekannt. Ich weiß, daß er sich nach einem kurzen politischen Irrweg bereits sehr bald nach der Okkupation Österreichs aktiv und unter Einsatz seines Lebens gegen das Naziregime stellte und beim Aufbau der ersten Widerstandsgruppe an der Wiener Universität führend beteiligt war. Als er 1941 verwundet von Russland heimkehrte, trat er von seiner Dienststelle, dem Reserve-Lazarett IX, Wien-Neuwaldegg, mit mir u. anderen Antifaschisten in Verbindung.
In der Zeit nach meiner ersten Verhaftung (Ende Jänner 1943), als ich versuchte, die drohende zweite Verhaftung zu verhindern, stellte sich mir Dr. M. in selbstloser Weise mit Rat und Tat zur Verfügung. Von der Nationalbibliothek aus – er befand sich damals dort auf Studienurlaub – knüpfte er Verbindung mit Antifaschisten aus den höheren Offizierskreisen der Wehrmacht an, um diese zur Hilfe zu bewegen. Nach meiner zweiten Verhaftung besuchte er mich in Unteroffiziersuniform, durch sein fehlendes Auge besonders gekennzeichnet, trotz strengen Verbots in meiner Arrestzelle in der Wiener Radetzky-Kaserne, um weitere Möglichkeiten der Befreiung zu erkunden. Als ich nach Degradation und zwangsweiser Frontbestellung im Krankenrevier der Radetzky-Kaserne Dienst machte, leistete mir Dr. M. wertvolle Dienste bei der Verhinderung von Frontabstellungen, indem er mir verläßliche Antifaschisten zuleitete, deren Frontabstellung wir in zahlreichen Fällen verhindern konnten. Außerdem stellte er die Verbindung zu Widerstandsgruppen in anderen Lazaretten her.
Ich kann somit für Dr. Massiczek in jeder Weise bürgen und erwarte, dass endlich seiner siebenjährigen, ständig mit schwerster Lebensgefahr verbundenen Arbeit im Sinne der Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Österreich unter dem Terror Hitlers durch eine endgültige Rehabilitierung Rechnung getragen wird.
[signiert: Dr. Kurt Lingens]
Wien, am 13. März 1947.